©Peter Krausgrill/ADC
1. September 2022
Laudatio
Night of Honour

„Das Theater ist der geschützte Raum. Für fast alles.“

Die Theaterregisseurin Karin Beier inszeniert mit großer Lust am Experiment und geht neue konzeptionelle Wagnisse ein. Sie macht politisches Theater, das relevant ist und auch mal anecken darf. Als Intendantin des Deutschen SchauSpielHauses Hamburg ist sie bei der ADC Night of Honour als „Kundin des Jahres“ geehrt worden, denn sie ist es, die es Kreativen ermöglicht, außergewöhnliche Kampagnen zu machen. Michel Friedman, Jurist, Philosoph, Politiker, Publizist und Talkmaster hielt eine ebenso außergewöhnliche Laudatio auf sie und inspirierte mit seinen Worten zum Theater, zur Kunst, zur Kreativität – und zur Zeitenwende.

Ich möchte den Abend so „richtig fröhlich“ beginnen, indem ich Ihnen sage, Schlaraffenland ist abgebrannt. Und das schon seit über 20 Jahren. Eigentlich beginnt die Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts mit 9/11 in den USA. Auch wenn viele das schon als ganz, ganz hintere Idee in ihrer Erinnerung aufbewahrt haben. Ich will die Krise auch nicht ausrufen, aber ich will eine Methodik aufrufen, die im Schlaraffenland sehr gerne gelebt wurde. Es gibt eine Krise, die wird gerade etwas schwächer. Wir machen die Tür zu, wir hängen ein „Do not disturb“-Schild raus, ein bisschen Pergament drauf. Dann kommt die nächste Krise und das alles wiederholt sich.

Man muss feststellen, dass wir heute, wo wir gemütlich hier nebeneinandersitzen, ein Problem haben. Das „Do not disturb“-Schild hat keine Tür. Die Tür ist weg. Wir befinden uns nicht in einer Krise, wir befinden uns in einem Zeitalter vieler Krisen. Wir befinden uns mitten in der Herausforderung, als eine sehr verwöhnte – nicht nur materiell verwöhnte – Gesellschaft.

Das Theater ist der Raum der Gefühle: Wut, Liebe, Rache, Eifersucht, Hass und der Tod.

Wir sprachen ja gerade von Identitäten, wir sprachen von Autonomie. Die Voraussetzung, um zu sich selbst zu kommen, ist Emanzipation. Und dieser Emanzipationsprozess ist furchtbar anstrengend, hat alle Stresselemente und geht einem sehr oft auf „den Keks“. Vor allem wenn es andere sind, die sich emanzipieren, und man ist dabei Zeuge. Aber wenn die Analyse stimmt, dass das 21. Jahrhundert nicht die Fortsetzung des 20. ist – und vieles spricht dafür: Nicht nur die geostrategischen Fragen, nicht nur die Fragen der sozialen Gerechtigkeit global, nicht nur die Klimafragen – sondern auch ganz klein in dieser Stadt, Frankfurt oder in Hessen, in Deutschland, in Europa. Wenn es stimmt, dass das 21. Jahrhundert nicht einfach die Folgeentwicklung des 20. Jahrhunderts ist, dann bedeutet das viele Fragezeichen, Zweifel, Lernen, Veränderung und Fragestellen.

Und das, meine Damen und Herren ist die Aufgabe der Kunst und der Kultur. Erst recht des Theaters. Das Theater ist der geschützte Raum. Für fast alles. Für alle Perspektiven, wie man das Leben betrachtet. Es ist der Raum der Gefühle: Wut, Liebe, Rache, Eifersucht, Hass und der Tod. Theater ist auch der Raum der Reflexion und zwar aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Deshalb können wir Stücke, die schon hunderte Jahre alt sind, immer wieder neu erfahren, weil die Regisseure und Regisseurinnen uns eine neue Interpretation desselben Textes anbieten. Und wir sitzen da und denken „Wow – es passiert etwas mit mir“. Und diese Kreativität, diese künstlerische Kraft, auch auszuhalten. Heute und erstaunlicherweise in fünf Jahren? Es sind alle begeistert, was in diesem Theater heute Abend gezeigt wurde und in fünf Jahren gähnt man und man denkt sich „Was war das denn eigentlich?“. Das alles auszuhalten, das ist die tägliche Leistung von Menschen, die im Theater arbeiten aber auch derer, die Bücher schreiben, die Musik machen – und ich bin sehr froh, dass Sie heute die doppelte Portion Musik gehört haben und bedanke mich, dass Sie sich den Raum genommen haben.

Das ist Kunst. Sie tut etwas mit uns. Wir können uns ihr nicht entziehen.

Denn das ist Kunst. Ob wir wollen oder nicht, sie tut etwas mit uns. Wir können uns ihr nicht entziehen. Sie weckt in uns unbewusste Reaktionen, sie triggert, sie spielt mit uns, sie weckt uns, sie regt uns auf, sie inspiriert uns. Eine der wichtigsten Menschen in diesem Bereich in Deutschland ist Karin Beier, die nicht nur das größte Schauspielhaus in Hamburg für Deutschland führt, sondern als Regisseurin eine der außerordentlichsten Talente in unserem Land und im deutschsprachigen Raum ist. Und es wundert nicht, dass ein Mensch, der so kreativ ist…

Erlauben Sie mir einen Appositionsgedanken: Kommunikation, die leer ist, ist nichts. Wenn wir andauernd in der Politik darüber reden, es bedürfe einer besseren Kommunikation, empfehle ich, darüber nachzudenken, dass es endlich um mehr Inhalt geht. Dann brauchen sie vielleicht gar nicht eine so tolle Kommunikation.

Wenn man aber, wie Karin Beier so viel Substanz zeigt, dann ist diese Kommunikation inspirierend. Dann ist es auch die Chance ihrer Kommunikation, für das Theater zu werben und aufmerksam zu machen, so inspirierend für alle, die damit zu tun haben. Und das ist notwendig. Unsere Kulturinstitutionen, und das gilt auch für das Kino, das Museum und das Theater, erleiden nach wie vor große Zuschauer*innen-Schwunde. Wir dachten eigentlich, dass nach der Coronapause, (Sie sehen, ich benutze die Maske immer noch sehr bewusst) alle Menschen wieder in die Kulturinstitutionen rennen, dass sie ausgebucht sein werden. Wir lernen, dass sich das Verhalten verändert hat, aus vielerlei Gründen und wir davon weit entfernt sind.

Umso wichtiger ist es, dafür zu werben; nicht nur für das, was Karin Beier tut, kreiert und inszeniert für ihr Theater, sondern damit letztlich für die Kunst.

Die Voraussetzung, um zu sich selbst zu kommen, ist Emanzipation.

Karin Beier ist ein großartiger Mensch, eine unglaubliche Künstlerin und eine Managerin, denn Intendanten von Theatern managen Theater – und glauben Sie, ich habe mit Theater ein wenig zu tun, es ist manchmal sehr schwierig mit Individualisten, ein irgendwie geartetes Organisationsprogramm durchzuführen. Sie kann es, weil sie überdurchschnittlich ist – weil sie überdurchschnittlich intelligent ist, belesen ist, sensibel ist, empathisch ist, weil sie neugierig ist, weil sie Zweiflerin ist, weil sie Selbstzweiflerin ist. Vielleicht ist das Authentizität oder Emanzipation? Oder nennen wir es, wie wir es wollen. Jedenfalls ist sie eine außergewöhnliche Frau, die es einer Agentur ermöglicht, außergewöhnliche Kampagnen zu machen.

Meine Damen und Herren, ich glaube wirklich, dass der Begriff der Zeitenwende, der vor ein paar Wochen in den Raum geworfen wurde, bisher überhaupt keinen Inhalt, keine Diskussionsdynamik hat. Dass diese Zeitenwende schon lange, lange stattfindet, aber wir sie abgewehrt haben, weil wir eben nicht gestört werden wollen. Wir haben nicht mehr lange, die verlorene Zeit aufzuholen und wir brauchen deswegen alle Ressourcen, die nötig sind, um die Zeit nicht nur in diesem Land, sondern auch im Verhältnis zu anderen Ländern, wieder zu korrigieren. Dazu braucht man das Neue, das Andere, das Aufregende und Anregende, das Erstaunliche, das zum Erstaunen bringende – nennen wir es Kreativität. Nach Albert Einstein: „Kreativität ist die Intelligenz, die Spaß macht.“ Wir brauchen sie.

 

Mehr über die ADC Night of Honour 2022 und die Ehrentitelträger*innen hier. Ein Video, welches Karin Beier würdigt, finden Sie hier auf dem ADC YouTube Channel.

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