ADC Kreativranking 2024 – SERVICEPLAN auf dem ersten Platz
Der Art Directors Club für Deutschland (ADC) veröffentlicht sein jährliches...
Den Schriftsteller Marcel Feige – einigen als Krimiautor Martin Krist bekannt –verbinden 14 Monate intensive Arbeit und manch intimer Moment mit Nina Hagen. Denn er schrieb ihre Biografie „That's why the Lady is a Punk“. Warum er dies als außerordentliche Ehre empfand, er sich dann aber doch auf der Liste der kalt Erwischten wiederfand – darüber, aber vor allem über die einzigartige Nina Hagen selbst, erzählte uns Marcel Feige in seiner Laudatio bei der ADC Night of Honour 2022.
Ich erinnere mich noch genau an damals, vor einundzwanzig Jahren, Anfang 2001, als mein Verleger mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, die Biografie Nina Hagens zu schreiben, weil ich doch angeblich, ich zitiere, »so gut mit speziellen Leute könne«.
Spezielle Leute? Ich meine, klar … Nina Hagen – wer kennt sie nicht? Aber … eben auch: die deutsche godmother of punk. Oder, noch besser: die einzige, große deutsche Diva, die wir noch haben. Ich bin ganz ehrlich: ihre Biografie zu schreiben, dieser Auftrag – was für eine Ehre.
Die einzige, große deutsche Diva, die wir noch haben.
Etwas später saß ich also voller Euphorie im Büro von Ninas damaligen, inzwischen verstorbenen Manager Michael Schöbel … und wir stellten gemeinsam eine Liste aller Wegbegleiter zusammen: Menschen, mit denen ich sprechen sollte, um Ninas Leben und Wirken möglichst breit und tief zu erfassen:
Ninas Mutter, die hinreißende Eva-Maria Hagen, ihr Stiefvater Wolf Biermann, ihre einstigen Lehrerinnen, ihre ehemaligen Mitschüler, Freundinnen, Liebhaber, Bandkolleginnen, Fotografen, Veranstalterinnen – um nur einige zu nennen: Achim Mentzel, Florian Havemann, Günter Zint, Hermann Brood, Jim Rakete, Meret Becker, Thomas D. Und Herwig Mitteregger.
Ich bekam von Manager Michael Schöbel eine Vielzahl Kontaktdaten, Telefonnummern, an die hundert, einzig die zu Herwig Mitteregger blieb mir verwehrt.
Schöbel sagte: »Warte, den Herwig rufe ich besser selber an.« Er wählte, schaltete auf Lautsprecher, das Freizeichen erklang, dann:
»Ja.« Offenbar hatte Herwig Mitteregger die Nummer erkannt.
»Hier ist Michael Schöbel«, sagte Schöbel.
»Ja?«, sagte Mitteregger. Schöbel zögerte.
»Weißt du, Herwig, wir arbeiten hier an einer großen, prächtigen Biografie über Nina Hagen und alle ehemaligen Kollegen und … Herwig? Herwig?« Herwig Mitteregger hatte aufgelegt. Schöbel sah mich an.
»Na ja«, er lächelte verlegen, »Herwig ist nicht so gut auf Nina zu sprechen.«
»Wieso?«, wollte ich wissen.
»Nina eben«, meinte Schöbel, als wäre damit alles gesagt.
In gewisser Weise war es das auch. Und trotzdem war es nur die halbe Wahrheit.
Ich meine: Wir alle kennen Nina Hagen, wir kennen die Geschichten über Nina Hagen, über die Nina Hagen Band, die sich Anfang der 80-er alles andere als einvernehmlich getrennt hatte, und der eine oder andere von Ihnen kennt sicherlich auch das Musikgeschäft: Musiker kommen, Sängerinnen gehen, Bands treten auf, sie trennen sich, so ist das nun mal in dem Geschäft.
Wir alle kennen Ninas legendären Auftritt im österreichischen TV, wo sie vor laufenden Kameras in verschiedenen Stellungen demonstrierte, wie frau sich selbst am besten einen Orgasmus verschafft. Wir kennen ihr Playback in den Musikshows, wo sie sich keinen Deut um das Playback scherte.
Wir kennen ihre Auftritte in Talksendungen, wo sie sagt, was sie denkt – oder es auch nur in Form abenteuerlicher Fratzen und Grimassen zum Ausdruck bringt. Wir kennen ihre Erscheinung mit sensationellen Frisuren, schrillen, bunten Kleidern, mit Plateauschuhen, die nicht von dieser Welt sind.
Und wir kennen, wie passend, Ninas Faible für Gott, kosmische Energien, Nächstenliebe, Weisheit, Erleuchtung und alles andere, was sich sonst noch so da draußen befindet, UFOs inklusive.
Wir alle kennen also Nina Hagen, die Nina auf der Bühne, für viele exzentrisch, für manche verrückt, für viele Fans einfach nur ehrlich – und mutig. Weil sie jedesmal aufs Neue auslotet, wie weit sie gehen kann.
Und fast alle denken, es gibt noch eine zweite Nina Hagen, die Nina ganz privat, die sich wahrscheinlich klammheimlich ins Fäustchen lacht über die Presse, deren Entrüstung jedesmal, über ihr eigenes Image als Enfant terrible.
Schließlich schrieb Nina selbst in ihrem Vorwort zu meiner Biografie: »Mit einem Lächeln und einem offenem Herzen: Ich will Euch meine Seele zeigen … Meine Mission fängt jeden Tag von Neuem an mit all meiner Liebe und viel, viel Spaß.« Na bitte, in erster Linie geht es Nina also um Spaß.
Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, und ganz sicher nicht der Grund, warum ich heute Abend hier stehe und weshalb Sie, meine Damen und Herren, Nina Hagen heute zum Ehrenmitglied des ADC erklären.
Die Wahrheit ist: Nina Hagen ist Nina Hagen, und zwar mit Haut und Haaren. Nina Hagen ist mit jeder Faser ihres Körpers – Künstlerin, und natürlich geht es Künstlerinnen und Künstlern bei allem auch um ihren Spaß – aber um es präziser zu formulieren: Es geht um ihre Kunst. Um ihr Talent. Und um dessen Weiterentwicklung. Natürlich werden dabei ständig Grenzen überschritten, nein, vielleicht müssen sie das sogar: Grenzen gesprengt werden.
Nina Hagen ist Nina Hagen, und zwar mit Haut und Haaren. Nina Hagen ist mit jeder Faser ihres Körpers Künstlerin.
Für Nina gilt das insbesondere, und zwar von Geburt an. Geboren in einer Künstlerfamilie, Scheidung der Eltern, Wolf Biermann, der Dissident und ihr Stiefvater, die Stasi, das enge Korsett des real existierenden Sozialismusses. Es wurde ihr quasi in die Wiege gelegt, einerseits die Kunst und andererseits das Grenzen-sprengen-müssen, um die Kunst, um ihre Kunst überhaupt erst ausleben zu können.
Punk, der aus dem Westen rüberschwappte, war wie eine Offenbarung für Nina. Punk-Kultur, das waren provozierendes Aussehen, eine rebellische Haltung und nonkonformistisches Verhalten.
Obwohl zu Anfang alles noch nach guter, strenger Planwirtschaft aussah: Nina absolvierte eine Gesangsausbildung, sang im Reinhard-Lakomy-Chor, drehte Fernsehfilme, sang mit Achim Mentzel – und landete 1975 als Sängerin der Band Automobil einen Hit: Du hast den Farbfilm vergessen.
Die Melodie klingt wie ein braves Schlager-Arrangement der DDR-Staatsfirma Amiga, doch Nina als Automobil-Frontfrau war unangepasst schrill, ihre Stimme ein Organ, wie ein Punk-Statement, ihr Text dementsprechend eindeutig zweideutig.
Das Lied war ein Hit, ach was, vielleicht sogar der größte DDR-Hit. Der Band Automobil standen danach Tür und Toren offen: Fernsehen, Filme, Konzert-Touren, sogar Reisen in den Westen, ein Wunschtraum ging in Erfüllung für die Musiker – der große Durchbruch.
Doch zu ihrer großen Enttäuschung schmiss Nina einfach hin, folgte lieber ihrem Ziehvater Biermann in den Westen. Nina, die Punk-Göre, entschied sich für die Freiheit.
In West-Berlin lernte sie die Jungs um Herwig Mitteregger kennen, die geflasht waren von der provozierenden Göre, ihrer rebellischen Erscheinung, ihrem nonkonformistischen Auftreten, ihrer fulminanten Stimme. Das war Punk pur. Der Rest ist Geschichte.
Als Nina Hagen Band definierten sie den deutschsprachigen Punk-Rock neu mit Songs wie »Auf’m Bahnhof Zoo«, »TV-Glotzer«, »Unbeschreiblich weiblich«. Top Ten-Hits, Goldene Schallplatten, Fernsehen, Filme, Konzert-Touren, sogar in den USA, ein Wunschtraum ging in Erfüllung für die Musiker, für jeden Musiker – der große Durchbruch.
Nun, wie schon angedeutet, Nina stieg aus, sehr zum Entsetzen ihrer vier Kollegen. Und Herwig Mitteregger.
Aber einmal mehr wählte Nina, inzwischen zur Punk-Göttin gekürt, die Freiheit.
Auf diese Weise ging es in den Folgejahren – und bis heute – munter weiter: Immer wieder nahm Nina neue Projekte in Angriff, hatte neuen Erfolg, war Opern-Diva, Castingshow-Jurorin und Brecht-Interpretin, und jedesmal setzte sie – sehr zum Leidwesen ihrer Kollegen und Mitarbeiter – der Arbeit schon bald ein Ende.
Aber einmal mehr wählte Nina, inzwischen zur Punk-Göttin gekürt, die Freiheit.
2003 traf auch mich jenes Schicksal, kurz vor Fertigstellung der Biografie, die Druckmaschinen liefen quasi schon, die Bestellungen aus dem Buchhandel trafen ein, das Buch versprach in die Spiegel-Bestsellerliste zu steigen, die Presse scharrte erwartungsvoll mit den Füßen – und Nina schmiss hin. Sie hatte keine Lust mehr.
Da stand ich nun, einer mehr auf der Liste der kalt Erwischten.
Dabei hatte ich mich mit Nina vierzehn Monate lang außerordentlich gut verstanden, bin mit ihr Schritt für Schritt ihr Leben durchgegangen, bei Tee und Joints, während mein Hund in ihrem Schoß schlummerte, draußen in ihrer kleinen Wohnung in Klein-Machnow bei Potsdam,
Und ich weiß noch, wie ich so auf ihrem Klo saß und munter mit ihr über ihr Leben plauderte, weil es dort nicht mal eine Klotür gab, und ich dachte: Ich weiß gar nicht, was sie alle haben, Nina, die Diva, die Punk-Göttin, ist aber doch extremst entspannt. Tja …
Michael Schöbel, ihr damaliger Manager, meinte: »Nina ist göttlich, aber hast du schonmal von einem Gott gehört, mit dem man vernünftig über Karriereplanung reden kann?« Fürwahr, Nina ist kein Mensch, mit dem sich im engen Schema von Zwei-Jahresplänen denken lässt. Wer mit Nina arbeiten und leben will, braucht viel Toleranz.
Viele ihrer ehemaligen Wegbegleiter verfügten nicht über diese Toleranz, und tragen Nina noch heute ihr Verhalten nach. Sie waren sich in den Gesprächen mit mir einig: Immer wenn Nina mit einem ihrer Projekte vor dem Durchbruch steht, schmeißt sie hin, weil die Verpflichtungen, die mit dem Erfolg einhergehen, ihr zuwider sind. Nina aber will sich nicht verpflichten, nicht einschränken lassen.
Sie will frei sein, selbstbestimmt, sie will kreativ und durchgeknallt sein, feministisch, kämpferisch und laut – nicht nur auf der Bühne –, und sie will immer authentisch sein.
Punk-Göttin trifft es deshalb ganz gut. Freigeist noch besser.
Und als solcher Freigeist – das ist das, was ihre Kritiker nicht verstehen … als Freigeist ist Nina sehr wohl der ganz große Durchbruch gelungen: Jener nämlich, sich als Künstlerin niemals und von niemanden einengen lassen zu müssen, sich zu irgendetwas zu verpflichten, geschweige denn sich irgendeiner Grenze zu unterwerfen.
Ich frage Sie: Ist es nicht genau das, was uns an diesen … speziellen Menschen fasziniert? Ist es, diese grenzenlose Freiheit, nicht das, was wir uns alle auch für uns selbst wünschen?
Mehr über die ADC Night of Honour 2022 und die Ehrentitelträger*innen hier. Ein Video, welches das Werk Joachim Sauters darstellt und ihn würdigt, finden Sie auf dem ADC YouTube Channel.
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