©Patrick Desbrosses
24. Januar 2022
Gastbeitrag
Seminare

Immer weiter lernen!

Warum es glücklich macht, sich neue Fähigkeiten anzueignen. Und weshalb wir uns dabei sogar neu erfinden können. Eine Kolumne von Markus Albers – erschienen in der Zeitung zu den ADC Seminaren.

Wann haben Sie zum letzten Mal etwas Neues gelernt, also: Nicht einen Fakt auf Google nachgeschaut, sondern eine Fähigkeit erworben. Durch Training, Wiederholung, Scheitern, besser werden …? Mit Schweiß und Flüchen und mühsamen kleinen Fortschritten … bis es am Ende dann klappt?

Bei mir war das neulich, als ich zum ersten Mal reiten musste. Meine Töchter wollten unbedingt Pferdeurlaub machen, und statt den ganzen Tag zuzuschauen, habe ich widerwillig mitgemacht. Irrsinnig mühsam, bis ich auch nur auf dem Pferd war – zweimal am Tag striegeln, aufzäumen, satteln. Überall Fliegen und Pferdeäpfel. Und dann sitze ich auf diesem großen Tier, das natürlich nicht tut, was ich will. Habe Angst runterzufallen, frage mich, wieso ich mir sowas in fortgeschrittenem Alter antue. Ich könnte ja auch mit einem Kaffee auf der Veranda sitzen und zuschauen.

Um es kurz zu machen: Nach einer Woche habe auch ich das erste Mal galoppiert. War irre stolz auf mich. Denn ich hatte – genau – etwas Neues gelernt. Und das macht nachweislich glücklich.

Lernen kurbelt unsere

Neurotransmitter-Produktion an.

Neurowissenschaftler*innen sagen, dass unser Gehirn besonders aktiv ist, wenn wir uns auf der Suche nach Neuem befinden. Lernen kurbelt unsere Neurotransmitter-Produktion an. Nimmt ein Mensch Neues auf, sind ähnliche Gehirnregionen aktiv wie bei anderen Aktionen, die das Glücksgefühl fördern – essen zum Beispiel oder Bewegung.

Dass wir uns dabei sogar immer wieder neu erfinden können, ist inzwischen gut belegt. Hirnforscher*innen widersprechen der Vorstellung, dass der Kern der Persönlichkeit angeboren sei und dann stabil bleibe. Vielmehr organisieren sich die Nervenzellen des Hirns fast ein Leben lang neu, was auch unseren Charakter verändert. „Das heißt umgekehrt, dass es relativ sinnlos ist, wenn Menschen ihr vermeintlich angelegtes Selbst finden oder verwirklichen wollen“ schreiben Werner Siefer und Christian Weber in ihrem Buch „Ich – wie wir uns selbst erfinden“. Es gehe nicht um die Suche nach einer Bestimmung, vielmehr müsse der Mensch frei wählen, was aus ihm*ihr werden soll: „Die Frage lautet nicht mehr: ‚Wer bin ich?’, sondern ‚Wer könnte ich werden?’“

Das Leben ist eine Baustelle, fassen die beiden Autor*innen ihre umfassenden Recherchen bei Hirnforscher*innen, Psycholog*innen, Philosoph*innen und Anthropolog*innen auf der vergeblichen Suche nach dem Kern unserer Persönlichkeit zusammen. Jede*r kann selbst bestimmen, ob er*sie an ihrem Ich beständig aktiv weiterarbeitet oder gar einen radikalen Umbau wagt. Ein anderer Mensch werde man in der Regel allerdings nicht „durch einen vernünftigen Entschluss und heftiges Wollen“. Ähnlich wie beim Streben nach dem Glück die Aktion gefordert ist, verändert sich auch die Persönlichkeit zumeist durch neue Erfahrungen oder einen konkreten Anlass.

Umzüge und Berufswechsel zum Beispiel seien – entgegen des alltagspsychologischen Rats, vor Problemen nicht davonzulaufen – sehr gute Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung, weiß die Entwicklungspsychologin Ursula Staudinger: „Wenn man sich ändern will, geht das einfacher im neuen Kontext. Wir müssen uns entwickeln lernen, so wie wir schreiben und lesen lernen.“

Die Frage lautet nicht mehr: ‚Wer bin ich?’, sondern

‚Wer könnte ich werden?’

Nun war für viele von uns 2020 (und auch 2021, Anmerk. d. Red.) eine Zeit, in der wir weniger von der Welt und anderen Menschen gesehen haben als je zuvor – aber paradoxerweise auch das Jahr, in dem wir Neues lernen konnten. Wir haben erfahren, wie es ist, von zu Hause aus zu arbeiten. Haben vielleicht neue Sportarten ausprobiert, neue Kochrezepte, neue Hobbys – Wandern, Gärtnern, Handwerkern – oder begonnen ein Musikinstrument zu spielen.

Ich glaube, dass in dieser teils notgedrungenen Renaissance individuellen Lernwillens eine Chance steckt: Wenn wir es schaffen, unsere gerade neu erstarkte Neugier auch nach der Pandemie aufrecht zu erhalten, haben wir nicht nur eine der Kernkompetenzen künftiger Arbeitsmärkte verinnerlicht – sondern vor allem den Spaß am Leben wieder neu entdeckt.

In meinen Büchern habe ich über das lebenslange Lernen geschrieben und über die Frage, welche Fähigkeiten man erwerben sollte (ist es besser Expert*in zu sein oder Generalist*in?). Sowie darüber, wie leicht oder schwer wir uns beruflich neu erfinden können, indem wir uns Neues aneignen. Schon in meiner Zeit als Journalist war der größte Antrieb für mich: Fragen stellen, Querverbindungen ziehen, Zusammenhänge erkennen und erklären. Und nicht zuletzt sehe ich heute bei meinen Töchtern, wie selbstverständlich sie fast täglich etwas Neues können: zeichnen, tanzen, Erfindungen bauen, Drohnen fliegen oder Klavier spielen.

Da können wir Erwachsenen uns einiges abschauen, denn wie eine Google-Suche zu einem Thema jeden Tag neue Ergebnisse zeigen kann, wächst und verändert sich permanent, was als nützliche Fähigkeiten und notwendiges Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Der US-amerikanische Autor Jeff Jarvis schlägt vor, die Begriffe ‚Jugend’ und ‚Erziehung’ zu trennen. Während in der Jugend nicht NUR gelernt werden sollte, hört für Erwachsene das Lernen NIE auf.

 

Markus Albers war Autor der brand eins, Berlin-Korrespondent von monocle, Managing Editor der Vanity Fair, Redakteur der Welt am Sonntag und beim SZ-Magazin. Seine Texte wurden außerdem in der ZEIT, in der GQ und AD sowie Spiegel und stern veröffentlicht. Heute arbeitet er auch als Berater und Unternehmer. Markus ist Mitgründer von Rethink und verstärkt seit November 2021 bei der Mutteragentur C3 als Executive Director Thought Leadership agenturübergreifend die Bereiche Content und Creative Concept.

 

Dieser Beitrag ist in der Zeitung zu den ADC Seminaren erschienen. Hier ist die ganze Zeitung einzusehen. Bei Interesse an einem Print-Exemplar bitte einfach eine Mail an seminare@adc.de schicken.

 

 

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